Rumkommen

Reisegeschichten

Auf nach England?

Aug 202015

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Großbritannien ist irgendwie zu unserem ersten einschneidenden Etappenziel geworden und so stehen wir frohen Mutes morgens am Straßenrand in Lille und halten die Daumen in die Sonne. Nach einer Stunde wechseln wir den Standort, eine Weile später wieder, dann wieder und wieder...

Nach fünf Stunden Wartezeit sind wir kein Stück vorwärts gekommen und mit den Nerven am Ende. Wie sollen wir es heute noch rüber nach England schaffen, wenn wir nicht mal bis an die Küste kommen? Zwei Jungs halten - sie fahren aber nicht in unsere Richtung. Trotzdem helfen sie uns, geben uns Übernachtungskontakte, muntern uns auf. Und endlich, nach geschlagenen sechs Stunden (unser persönlicher Warte-Rekord) erbarmt sich ein Franzose und bringt uns direkt nach Calais. Wir fragen mit Händen, Füßen und Basisfranzösisch, ob er uns an der letzten Tankstelle, bevor es zum Eurotunnel geht, rauslassen kann und er bejaht selbstbewusst. Tatsächlich hat er kein Wort verstanden, denn gutmütig hält er genau vorm Tunneleingang - Fußgänger dürfen hier gar nicht sein. Nun irren wir also im Niemandsland umher, das Elend ist groß, Flüchtlinge verstecken sich in den unmöglichsten Ecken, wir fühlen uns so falsch und verlogen hier als privilegierte Europäer mit zufällig vorteilhaften Pässen. Während wir sehr freundlich und hilfsbereit von der Polizei behandelt werden, schreien die Beamten die Flüchtlinge an - obwohl wir auf exakt dem gleichen Gelände geduldet werden. Alle sagen, wir sollen vorsichtig sein, wegen der Ausländer... und wir haben irgendwie auch Angst, aber wieso, das wissen wir nicht. Später schämen wir uns dafür.

Gegen Abend beschließen wir, zurück ins Zentrum von Calais zu trampen und dort im Bahnhof zu übernachten. Eine ältere italienische Signora nimmt uns mit, am Bahnhof fragen wir dann zwei nette Leute, wo es öffentliches WiFi gibt. Wir erzählen von unseren Plänen und sie laden uns ein, in ihrem Haus zu schlafen. Die beiden heißen Alan und Amélie und sind selbst viel gereist. Dieser merkwürdige Tag nimmt so ein wunderbares Ende und wir fassen neuen Mut. Außerdem haben die beiden viel mit den Flüchtlingen zu tun gehabt, ihnen geholfen, und sie erzählen von der Situation, von den Polizisten, von den Medien. Es sind keine guten Geschichten. Amélie erzählt von Zelten, die sie und andere Bewohner für die Flüchtlinge gespendet haben und die eines Nachts von Polizisten uriniert und zerstört werden. Sie erzählt, dass Beamte die Migranten in tiefster Nacht mit lauter Musik aus dem Schlaf reißen. Sie sagt:

Seit zwanzig Jahren fühlt es sich an, als würden unsere Regierung und der Bürgermeister von Calais versuchen, die Realität der steigenden Zahl an Flüchtlingen zu leugnen. Es wird enorm viel Geld in Sicherheit, Unterdrückung und die Errichtung von Zäunen investiert mit dem Ziel, dass die Migranten "freiwillig" die Stadt verlassen. Diese Aktionen sind trotz ihrer Härte nicht von Erfolg gekrönt. Wenn ich Flüchtlingen (Männer, Frauen mit Babys, Teenager oder Kindern) in den Straßen begegne, schäme ich mich dafür, Europäerin zu sein. Wir nennen uns das "Land der Menschenrechte", doch ich fühle mich traurig und machtlos angesichts der komplizierten Situation, der Behandlung dieser Menschen durch die Polizei und dass sie in diesem Gestrüpp [Anm.: Brachland kurz vor dem Eurotunnel] hausen müssen. Vielleicht ist es an der Zeit, die Vorgehensweise zu ändern und die Situation mit mehr Menschlichkeit anzugehen.
Viele haben Alarm geschlagen und dokumentieren täglich, was wirklich [in Calais] geschieht. Es lohnt sich hier nachzulesen:
Calais ouverture et humanité (fr)
Calais Migrant Solidarity (en)
Passeurs d'hospitalites (fr)

Am nächsten Morgen werden wir von den beiden zu guter Letzt direkt zur Fähre kutschiert, dort finden wir nach zwei Minuten ein Auto, dass uns mit nach Dover nimmt. Tom und Anahita kommen aus Wales und Dortmund, wohnen in Leipzig und haben viel Spannendes zu berichten. Mit passender Musik tuckern wir auf englischen Boden und sind mehr als dankbar für alles, was wir erfahren haben. Trotzdem bleibt dieses Unverständis, wie man Leuten in Not, die Krieg und Flucht überlebt haben, so abscheulich begegnen kann. Wir, die auf deren Kosten ein so wunderbar komfortables Leben führen dürfen...

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